Materialien zu «Gute Tage» von Urs Graf
Siehe auch die «Notizen zur Filmästhetik» auf der Website urs-graf.ch
Aussagen der Protagonisten – eine Auswahl.
Cristina Fessler
Ich habe Cristina Fessler besucht. Sie sagte: «Sobald ich wieder etwas bei Kräften bin, kannst du gerne zu mir ins Atelier kommen und meine Arbeit an den Bildern aufnehmen, aber es wäre mir lieber, wenn man mich dann nicht sehen würde. Das Bild im Spiegel ist mir fremd geworden, ist weit weg von der Person, als die ich mich halt immer noch fühle; doch ich werde gleich von mir hören lassen, sobald ich wieder einen guten Tag habe.»
Boris Mlosch
Boris musste die Arbeit an seinem Bild nach einer halben Stunde abbrechen. «So dauert es fünfhundert Jahre, bis ich das Bild fertig habe. Ich weiss nicht, wie lange es dauert, bis ich mich erholt habe. Aber ich will heute Nachmittag weitermachen – bin gespannt, was entstehen wird. Jetzt hat das Bild noch kein Zentrum – ich muss das irgendwie noch hinkriegen.»
«Ich habe vor drei Tagen die Schmerzmittel abgesetzt. So ist endlich wieder ein Bild entstanden – es war fast so etwas wie eine Befreiung.»
UG: «Und die Schmerzen, die du jetzt hast?»
«Wenn du die Schmerzen an die Stelle rücken kannst, wo sie wirklich sind, dann sind sie nicht mehr so dominant. Jetzt tut halt der Bauch, tun die Füsse blöd. Aber das ist ja nur ein kleiner Teil des Ganzen. Wenn es gelingt, das Augenmerk sowohl auf die Schmerzen, als auch auf den zufriedenen Rest zu richten, dann relativiert sich auch der Schmerz. Der ist dann halt dort.»
An der Abschiedsfeier erzählt ein Freund, ein paar Tage bevor Boris gestorben sei, habe er gesagt: «Weisst, ich hatte ein gutes Leben, ein schwieriges, aber ein gutes.»
Renate Flury
Renate Flury arbeitet an einem grossen Bild, das an die Wand ihres Ateliers gepinnt ist.
«Ich weiss nicht, wie lange ich noch so stehen und malen kann. Und das ist auch traurig – das ist ein täglicher Abschied von Sachen, die gestern noch gingen. Aber seit mir der Tod etwas näher ist, empfinde ich ihn nicht mehr so als Bedrohung, habe ich auch weniger Stress, bin ich viel gelassener.»
UG: «Wie wars denn früher?»
RF: «Da hatte ich immer das Gefühl, ich müsse noch viel erledigen.»
Renate Flury betrachtet das Bild, an dem sie eine halbe Stunde gearbeitet hat:
«Jetzt bin ich erschöpft – aber nicht nur – ich bin auch wach, bin auch neugierig, wie es mit diesem Bild weitergehen wird. Ich habe das Gefühl, ich sei etwas weiter gekommen – sei näher am Einklang mit meinen Vorstellungen, sodass es nicht mehr so schwirrt. Wenn es mal Eins geworden ist, dann ist das gut, auch wenn es für mich eine Überforderung ist.»
Renate Flury ist aus der Reha zurück, doch dastehen und an den grossen Bildern arbeiten, das könnte sie noch nicht. Nun sitzt sie vor dem Computer: «Vor einem halben Jahr habe ich die Zeichenstifte nicht mehr halten können, mit diesen Fingern. Da habe ich mit der Maus des Computers zu zeichnen begonnen. Wenn die Hand nicht mehr will, muss eben der Arm das Zeichnen lernen.»
Renate Flury formt ein Objekt aus Ton, übergiesst dieses mit Gips. Aus der erstarrten Gipshülle arbeitet sie den noch weichen Tons heraus: «Es haben so viele intelligente, spirituelle Leute über die Leere und das Nichts geschrieben und nachgedacht, dass ich jetzt nicht viel dazu sagen mag, ausser, dass ich so gern diesem Nichts, das da drin entsteht, seine Form gebe. Diese Gleichzeitigkeit von Freude, Ehrfurcht und Angefressensein – das ist etwas Geheimnis-volles. Wenn ich das herausarbeite, habe ich manchmal das Gefühl, ich sei nahe an etwas – salopp gesagt – „heilig“ ist wohl nicht das richtige Wort.»
Renate Flury arbeitet an einem grossen blauen Bild, das an die Atelier-Wand gepinnt ist: «Ich finde eindrücklich, was das Bild mit mir macht, wenn ich daran arbeite, dass ich mich aufrichten kann. Aber das geht auch nur, wenn ich voll bei der Sache bin, wenn ich mich dabei ganz vergesse. Und das kann ich mir nicht vornehmen – ich würde sofort das Gleichgewicht verlieren. – Ja, es geht, ich kann stehen. Und es macht mich glücklich, dass es geht.»
«Ich weiss schon, was ich noch möchte – ich möchte meine Stärken leben, glaube ich. Nein, nicht „glaube ich“- ich möchte meine Stärken leben! Künstlerin sein – ein bisschen weise sein und ein bisschen Kind sein – beides.»
Daniel Pestel
Seit Daniel Pestel eine Hirnblutung hatte, halbseitig gelähmt ist, stellt er aus verschiedensten Materialien kleine Objekte her – 10-20 cm hoch. «Früher arbeitete ich meistens mit Holz, teils mit den gewaltigen Stämmen von Mammutbäumen und Eichen – monumentale Werke, bis zu acht Meter hoch. Das endete, als ich die Hirnblutung hatte, halbseitig gelähmt wurde, nur noch eine Hand brauchen konnte. Nach etwa zwei Jahren, als ich mich wieder etwas besser fühlte in meiner Haut, da tauchte das wieder auf und ich begann nach Wegen zu suchen, um wieder in diese Welt zu finden. Es wurde für mich lebenswichtig, wieder etwas zu schaffen, mit allem, was mir in die Hand kam. Und als ich im Herbst die Blätter am Boden liegen sah, zerfallend, von Steinen zerlöchert, da kam mir die Idee, sie selbst zu perforieren, zu bemalen und ihnen so wieder ein Leben zu geben, nachdem sie zu Boden gefallen waren.»
«Ich möchte einen alles umfassenden Ausdruck erreichen, mit der ganzen Lust meines Schaffens zum lebendigsten Ausdruck gelangen – diese Arbeit zu ihrem Ende bringen und sie öffentlich zeigen vor dem Ende meines Lebens. Das ist mir wichtig, das ist es, wofür ich heute lebe.»
Auf dem Arbeitstisch von Daniel Pestel steht eine Fotografie von ihm und seiner Frau Marie-Louise Tschuor. «Ich könnte nichts machen ohne sie. Immer wieder muss ich Marie-Louise bitten, mir ihre Hände zu leihen. Das ist ein grosses Geschenk, das sie mir macht. Aber es ist egoistisch, das so zu sagen – ich möchte auch an sie denken, ob sie glücklich ist. Aber das muss sie sagen, ich kann nicht für sie sprechen. – Es ist jedenfalls ein schwieriges Leben – ein Paar, das so lebt, mit diesen Einschränkungen.»
Schang Hutter
Schang Hutter war zu schwach geworden, musste sein Atelier in Genua aufgeben und ist jetzt daran, eine Werkstatt und eine Art Schaulager im „Fabrikli“ einzurichten, das er in Attiswil gekauft hat.
«Jetzt ist hier alles noch etwas provisorisch. Es sind noch mindestens zwei Transporte nötig, um alles herzuschaffen aus Genua und dafür fehlt mir zurzeit nicht nur die Energie sondern auch das Geld. Aber wenn es hier mal richtig eingerichtet ist und alle meine Figuren ihren Ort gefunden haben, dann wird es auch keine Probleme geben, wenn es mich mal putzt.»
Es ist Juli. Schang Hutter arbeitet an der Holz-Figur, die er in Genua begonnen hat.
«Ich hatte schon einige Streifungen, mal hatte Sprachschwierigkeiten, mal konnte ich nicht mehr schreiben und immer wieder kam das Gehwerk dran. Aber es hat noch nie so lange gedauert, bis ich mich etwas erholt hatte – vom 10. April bis jetzt. Das ist eine sehr lange Zeit.»
Er sagt: «Wenn ich jetzt an die Figur denke, an der ich arbeite, an die Formen der Figur, dann muss ich auch noch an meine Beine denken – wie muss ich es machen, damit meine Beine auch mitkommen. Und das vor jedem Schritt, den ich mache. Aber das Gehen kommt langsam wieder. Aber es braucht seine Zeit. Und manchmal habe ich schon das Gefühl, dass ich gar nicht mehr so viel Zeit habe, wie ich haben sollte.»
Schang Hutter verschickt Einladungskarten für die Ausstellung in Hersiwil:
«Diese Ausstellung dauert bis am 13. April und meine Ausstellung in Bern ist am 10. August. Und zwischen diesen Ausstellungen ist die Rücken-Operation. Ich kann noch nicht sagen, wie das gehen wird. Nach dem, was ich von der Olympiade weiss, wie viele Operationen die Sportler haben und gleich wieder starten – da habe ich das Gefühl, das sollte bei mir auch so gehen.»
Schang Hutter hat die grosse Ausstellung zu seinem achtzigsten Geburtstag wesentlich mitgestaltet: «Ich hinke gerne herum. Das macht mir gar nichts, muss ja nicht mehr lange herumhinken. Das geht noch etwa 15 Jahre. 15 Jahre ist vielleicht etwas zu viel gesagt – ich weiss nicht, ob ich 95 werde. Aber ich sage jetzt mal 15 Jahre – ich hinke noch 15 Jahre herum und dann ist es sowieso fertig.»
Schang Hutter vor der Vernissage der grossen Ausstellung zu seinem Lebenswerk in Bern: «Das muss nicht unbedingt etwas Negatives sein sein, wenn es mit dem Alter etwas weniger wird. Es kann sich auch positiv etwas verändern und positiv weniger werden. Das wäre nicht schlecht, das wäre ja wieder ein Fortschritt, wenn es positiv weniger wird.»
Der Film «Gute Tage» und sein Entstehen.
Die Thematik.
Ein Film, der Menschen ermutigen kann, den beunruhigenden Gedanken zuzulassen, dass wir etwas verlieren könnten, das uns heute ein selbstverständlicher Eckpfeiler unserer Identität ist – sei es im Beruf, in einer Beziehung, durch einen Unfall, durch eine Krankheit, durch das Alter – und dass es möglich ist, unserer Existenz auf eine ganz andere, auf eine uns heute nicht vorstellbare Weise wieder einen Sinn zu geben.
Die Form der Darstellung.
Ein Film, der uns aus nächster Nähe das Leben nach einem massiven gesundheitlichen Einbruch miterleben lässt. Ein Film, der der Thematik dort nachgeht, wo sie in grösstmöglicher Dringlichkeit sichtbar wird, dort wo sich das Bemühen um einen Neuanfang, wo sich Gelingen und Scheitern in seiner ganzen Intensität in Filmbildern fassen lässt – im Leben von Künstlern, die erkrankten und die Arbeitsweise aufgeben mussten, die sie über Jahrzehnte entwickelt hatten. Ein Film, der auf grösste Nähe setzt, der ganz auf das Miterleben, auf die Sinnlichkeit von Bildern vertraut. Eine zittrige Hand, die heute um einen schlichten Bleistiftstrich ringen muss, kann uns in ihrer Direktheit berühren.
Die zentralen Personen des Films.
Dem Filmautor war es wichtig, das was ihn bewegt, dort zu erkunden, wo es sichtbar wird, wo das Schmerzliche und die schönen Momente des Gelingens in ihrer ganzen Emotionalität die Filmbilder prägen werden. So begann er nach „Bildenden Künstlern“ zu suchen, die nach einem körperlichen Einbruch gezwungen waren, andere Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks zu finden. Bald wurde ihm klar, dass keine der Bildenden Künste so direkt mit dem Körper verbunden ist, wie die Bildhauerei; Skulpturen entstehen aus dem ganzen Körper heraus, aus dem Körper, in dem sich unsere Gewohnheiten und Erinnerungen sammeln – zusammen mit all dem, was uns nie bewusst geworden ist. So ist es für Bildhauer von besonders grosser Bedeutung, wenn ihre körperlichen Fähigkeiten plötzlich eingeschränkt sind.
Es war aber auch klar, dass es Künstler mit einem ausgeprägt persönlichen Lebenswerk sein mussten, das so stark mit ihrer Identität (und ihrem gesellschaftlichen Ansehen) verbunden ist, dass das Leben nach einem Neuanfang, die Entwicklung neuer Formen des künstlerischen Ausdrucks ein grosses Wagnis ist.
Nach langer Suche fand der Filmautor fünf Personen, die bereit waren, ihn mit der Filmkamera an ihrem Leben und Schaffen teilhaben zu lassen: drei Künstler und zwei Künstlerinnen, die einen Neuanfang gewagt hatten und – wie sich bald zeigte – die immer wieder nach anderen Formen des künstlerischen Ausdrucks suchen mussten, die ihren weiter abnehmenden körperlichen Möglichkeiten entsprachen – immer wieder neue Versuche, jedem Tag durch ihr Schaffen eine Art Sinn zu geben, mit grösster Beharrlichkeit.
Diese fünf Personen sind zu Beginn des Films nicht einfach da. Nach und nach treten sie in Erscheinung, lernen wir sie kennen. (Und vielleicht ist auch zu erahnen, dass nicht alle angefragten Künstler bereit waren, sich in ihrer Schwäche zu zeigen. Es gab auch Künstler, denen es wichtig war, das Bild aufrecht zu erhalten, das man in der Öffentlichkeit von ihnen hat; und vor allem waren es die Kunsthändler daran interessiert, die deren Werke auf den Markt bringen.)
Früchte der Zusammenarbeit.
Während der Dreharbeiten begann sich bald zu zeigen, wie sehr sich die Protagonisten mit der inhaltlichen Ausrichtung des Films, mit der Vertiefung der Themen und den Formen der Darstellung identifizieren konnten. Es wurde ihnen immer wichtiger, sich vorbehaltlos einzubringen, ihre ungeliebten Seiten, ihre Schwächen und ihre Sorgen nicht zu verbergen, obwohl sie alle schon erlebt hatten, wie dies zu gesellschaftlicher Missachtung führen kann. So hat der Film in den drei Jahren seiner Realisierung eine Offenheit und Tiefe erlangt, die weit über das hinausgeht, was der Autor zu hoffen gewagt hatte.
Vom Arbeitstitel «Unstillbares Feuer» zum definitiven Titel «Gute Tage».
Als der Film bei der Montage seine Form anzunehmen begann, wurde klar, dass der vorgesehene Filmtitel zu Beginn des Films etwas in Worte fasst, was der Film leisten muss, was das Publikum nach und nach selbst erkennen wird.
Im Film gibt es immer nur die Gegenwart, nur das Heute. Niemand kann wissen, wie das Morgen sein wird. Das Publikum wird mit schwierigsten Lebenssituationen konfrontiert und es wird immer wieder von neuem erstaunt sein, wie beharrlich diese Menschen immer wieder Kraft und den Mut finden, um einen neuen Weg zu suchen. Und das berührt uns, weil jedes Morgen eine unsichere Sache bleibt, weil wir uns als Zuschauer nicht auf ein unstillbares Feuer verlassen können (das dieser Filmtitel in Aussicht gestellt hätte).
Im Prolog des Films sagt die Künstlerin Cristina Fessler, sie werde gleich von sich hören lassen, sobald sie wieder einen guten Tag habe. So kam der Film zu seinem Titel. Es wird schnell klar, was es für diese Menschen bedeutet, wenn sie von einem guten Tag sprechen – es sind die Tage, an denen sie etwas schaffen können, an denen vielleicht etwas entstehen kann.
Innenräume / Aussenräume.
Die Ärzte hatten dem Filmautor nach den Untersuchungen gesagt, es wäre gut für sein lahmendes Bein, wenn er sich möglichst viel ausserhalb der asphaltierten Wege, draussen in der Natur bewegen würde. So bleibt die Person des Filmautors und seine Sorge über die Landschaftsaufnahmen präsent – seine Sorge, die kaum erwähnenswert ist, wenn er sich mit einer der Personen des Films trifft.
Ihr Leben und Schaffen ist weitgehend an Innenräume gebunden, Landschaften sind ihnen nur mit fremder Hilfe und grossem Aufwand zugänglich – so sind die Natur-Bilder zwischen den Interieur-Sequenzen auch Sehnsuchtsräume. Und sie vermitteln auch ein Gefühl für das Draussen, für die Jahreszeiten, aber auch für das Verstreichen der Zeit – was auch etwas Bedrohliches hat, wenn man nicht weiss, wie das Morgen sein wird. Das Leben bleibt eine unsichere Sache.